Digitaler Zwilling

Heilsbringer in der Industrie?

Heilsbringer in der Industrie?

Alles spricht in der Industrie über den digitalen Zwilling. Er ist das Abbild des physischen ‘Assets‘ in der realen Fabrik und erlaubt dessen Simulation, Steuerung und Verbesserung. Aber ist er wirklich der Heilsbringer, als der er immer wieder präsentiert wird? Wir haben nachgefragt...

Thomas Weichsel, EPLAN GmbH & Co. KG 

Wenn wir vom digitalen Zwilling sprechen, so reden wir vornehmlich vom digitalen Anlagenzwilling. Von ihm profitieren alle Akteure der gesamten Wertschöpfungskette; vom Engineering, über die Fertigung bis hin zum Betrieb einer Anlage. Festgemacht an einem Beispiel bedeutet dies konkret: Wenn man den digitalen Zwilling z.B. eines Schaltschranks digital aufgebaut hat und daraus abgeleitet sämtliche Abmessungen und Komponentenplatzierungen kennt, so kann man hieraus die benötigten Fertigungsinformationen ausleiten und diese in die nachgelagerten Fertigungsprozesse übergeben. Diese Fertigungsprozesse müssen jedoch auch auf die Nutzung der Daten aus dem digitalen Zwilling abgestimmt sein. An diesem Beispiel erkennt man, dass der digitale Zwilling nicht allein der Heilsbringer der Digitalisierung für die Industrie sein kann. Vielmehr kommt es auf das saubere Zusammenspiel von Daten und deren Integration in die beteiligten Software-Lösungen entlang der Wertschöpfungskette des Kunden an. Hier stellt der digitale Zwilling die Datenbasis, um die angestrebten Prozesse in Engineering, Beschaffung, Fertigung und darüber hinaus optimal zu unterstützen.

Dr.-Ing. Olaf Sauer, Fraunhofer IOSB

Unter dem Begriff „Digitaler Zwilling“, der zuerst 2002 von Michael Grieves verwendet wurde, verstehen wir ein Konzept, mit dem Produkte sowie Maschinen und ihre Komponenten mit digitalen Werkzeugen modelliert werden – und zwar einschließlich sämtlicher Geometrie-, Kinematik- und Logikdaten, und das über den gesamten Lebenszyklus: von der Produktentwicklung über die Produktion bis zur Nutzung. Teilmodelle Digitaler Zwillinge bilden verschiedene Aspekte der physischen „Assets“ ab, z.B. mit dem Ziel von Simulation, Steuerung und Verbesserung. Vor allem die Integration der verschiedenen IT-Systeme über den Lebenszyklus von Digitalen Zwillingen ist heute noch schwierig; darum sind Datenräume ein vielversprechender Ansatz, um Teilmodelle Digitaler Zwillinge interoperabel und sicher über Unternehmensgrenzen hinweg auszutauschen.

Dr. Stefan Krug, Siemens Digital Industries

In einer industriellen Fertigung verfolgt man das Ziel, Qualität, Kosten, Lieferperformance und Nachhaltigkeit zu steigern. Digitale Technologien wie Simulationstools bzw. digitale Zwillinge helfen uns dabei, Transparenz zu steigern und Prozesse zu automatisieren und zu verbessern. Wenn wir z.B. bei uns in der Electronics Factory in Erlangen Fertigungssysteme digital planen und testen und mit Daten aus der realen Fertigungswelt füttern, dann können wir diesen digitalen Zwilling so optimieren, dass wir das reale Fertigungssystem ohne größere Anpassungen und Tests in Betrieb nehmen können. Damit sparen wir viel Zeit und Kosten und sind dadurch auch nachhaltiger. Und das ist erst der Anfang. Wir sind auf dem Weg ins Industrial Metaverse. Industrial Metaverse bedeutet, eine fotorealistische, hochpräzise und interaktive digitale Umgebung in Echtzeit für die Industrie. Das industrielle Metaverse ermöglicht den Anwendern die Leistungsfähigkeit umfassender digitaler Zwillingsmodelle über den gesamten Produkt-, Produktions- und Dienstleistungslebenszyklus hinweg zu nutzen.

Beate Deska, FTK e.V.

Simulationslösungen wie der Digitale Zwilling werden bei Design und Fertigung von Produkten und Anlagen durch den steigenden Anteil von Softwarekomponenten und Elektronikbauteilen immer wichtiger. Auch Innovationszyklen werden schneller. Hier liegt das Potential des Digitalen Zwillings. Denn er kann industrielle Prozesse und Verfahren grundlegend transformieren umso die Innovationsfähigkeit, Prozessoptimierung und Effizienz zu erhöhen. Dadurch kann auch die Resilienz von Unternehmen und ihre Widerstandfähigkeit bei externen und internen Krisen erhöht werden. Jedoch ist der Digitale Zwilling kein universeller Problemlöser. Noch ist er auch stark an die individuellen Anforderungen und Anwendungen von Unternehmen angepasst und somit äußerst spezifisch. Dennoch, wenn es gelingt, Insellösungen zu vermeiden und branchenweite Standards zu etablieren, dann kann er einen erheblichen Beitrag leisten, um komplexe Systeme zu beherrschen und innovative Kooperationen in der Industrie zu fördern.

Johannes Kalhoff, Phoenix Contact GmbH & Co. KG

Aufgrund des Klimawandels, nachhaltigen Umgangs mit Ressourcen und des Anspruchs an die Innovationsfähigkeit in einer digitalen Welt steht die Industrie vor großen Herausforderungen. Die digitale Transformation aller Bereiche sowie eine verfügbare, kostengünstige Datenlogistik über den digitalen Zwilling erweisen sich als das Mittel, um diesen Anforderungen zu begegnen. Denn so lässt sich die verkettete Wertschöpfung transparent gestalten sowie die Komplexität und volatile Prozesse beherrschen. Die Asset Administration Shell (AAS), die inklusive Metamodell, API, Security und Use Cases in der IEC 63278 international standardisiert wird, bildet die Grundlage für digitale Zwillinge in einer interoperablen Datenlogistik mit niedrigen Einstiegshürden. Neben dem Angebot für den EU-weiten Digital Product Passport ermöglicht die AAS die Nutzung von digitalen Zwillingen in industriellen Datenräumen sowie die notwendige digitale Kopplung von Sektoren für die Erzeugung, Speicherung und Nutzung regenerativer Energien und deren Transformation. Digitale Zwillinge und eine verfügbare Datenlogistik sind wesentliche Voraussetzungen zur Förderung einer nachhaltigen Wirtschaft.

Florian Groschup, Kuka Systems GmbH

Mit einer solchen Kategorisierung müssen wir vorsichtig sein. Wie in allen Lebensbereichen gibt es keine pauschalen Heilsbringer, auf denen dann die gesamte Last der nötigen Transformation einer Industrie lastet. Und genau in einem solchen Umfeld bewegen wir uns gerade: digitale Transformation. Das bedeutet, Prozesse und Produktionen zu digitalisieren. Doch Dashboards auf Bildschirmen reichen dafür nicht aus. Das IIoT muss als gesamtheitliche Lösung verstanden werden. Mit Blick auf den Anlagenbau bedeutet das, die gesamte Wertschöpfungskette zu digitalisieren. Bereits zu Projektbeginn wird ein virtuelles Modell der Produktionsanlage erstellt. Der Digitale Zwilling ist für uns daher die Grundlage für eine vollständig vernetzte Produktion. Durch ihn können alle verfügbaren Daten gesammelt und einfach und intuitiv visualisiert werden. Dass nachhaltig Mehrwerte aus dem digitalen Zwilling gezogen werden können, ist die Verschmelzung des Shopfloors und der IT unsere größte Aufgabe. Als Kuka kennen wir beide Welten – neben der „Cloud“ auch „Stahl und Eisen“. Von daher ist der Digitale Zwilling und seine „Greifbarkeit“ unsere große Chance auf eine wirkliche Digitalisierung der Industrie.

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